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Kai Burmeister

Impulse für ein neues Europa?
Herausforderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und das soziale Europa

Mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 sowie dem G8-Gipfel in Heiligendamm werden internationale und vor allem europäische Themen die politische Tagesordnung der nächsten Monaten bestimmen. Die Erwartungshaltung der EU-Kommission sowie der EU-Staaten ist hoch. Im Kern geht man davon aus, dass im Sommer ein tragfähiger Verfahrensvorschlag zum weiteren Umgang mit der Verfassung präsentiert wird.

Das Motto der Ratspräsidentschaft »Kräfte bündeln für ein soziales Europa – für eine soziale Welt« deutet an, dass auch von Seiten der Bundesregierung mittlerweile anerkannt wird, dass der Fortgang der europäischen Integration nur mit einer stärkeren sozialen Dimension erreicht werden kann. Für die politische Linke ergibt sich damit die Aufgabe, ihre Vorstellungen über die Konturen eines sozialen Europas stärker herauszuarbeiten und die vorhandenen Chancen für die Entwicklung eines Europäischen Sozialmodells zu nutzen.

Ein kurzer Rückblick

Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 ist die europäische Einigung vor allem von wirtschaftlichen Motiven bestimmt gewesen. Es waren stets ökonomisch geprägte Schritte, wie etwa der gemeinsame Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion, die die Integration bestimmt haben. Die politische und soziale Integration waren nie der Motor für das Zusammenwachsen der europäischen Staaten.

Der Weg zur heutigen Europäischen Union war nicht bruchlos oder frei von schweren politischen Krisen. Allerdings konnte aus diesen Krisen, wie etwa der »Politik des leeren Stuhls« (von Juli 1965 bis Januar 1966 boykottierte die französische Regierung die Sitzungen des Ministerrats), der »Eurosklerose« in den 1970er Jahren und der Ablehnung des Vertrags von Maastricht bei Referenden in Irland und Dänemark 1992, stets ein Ausweg gefunden werden, der meist den Anstoß zu einer weiteren Vertiefung gab.

Das »Nein« bei den Referenden über den Entwurf einer europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden symbolisiert hingegen eine Krise neuer Qualität. Auch wenn die Ablehnung der Verfassung durch die französische und die niederländische Bevölkerung zum einem gewissen Teil innenpolitisch motiviert gewesen sein mag, drückt sich in dem »Nein« vor allem ein wachsender Konflikt zwischen der ökonomischen und politischen Elite als Träger des bisherigen Integrationskurses und großen Teilen der Bevölkerungen in Europa aus. Anders formuliert: Die Zustimmung der Bevölkerungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu Europa ist (noch) vorhanden, doch wird zunehmend deutliche Kritik an der konkreten Politik der Europäischen Union geübt.

Die Ablehnung der Verfassung in den zwei Gründungsstaaten speist sich vor allem aus der Nichteinlösung wirtschaftlicher und sozialpolitischer Versprechen. Im Jahr 2000 wurde von den damals mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungen anvisiert, Europa bis zum Jahr 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasiertren Wirtschaftsraum der Welt« zu machen. Kombiniert wurde diese Wettbewerbsstrategie in der Lissabon-Strategie mit ambitionieren sozial- und beschäftigungspolitischen Zielen. Die Halbzeitbilanz im Jahr 2005 war allerdings mehr als ernüchternd: Weder konnten die angestrebten Zuwächse beim Wirtschaftswachstum noch Fortschritte bei der Beschäftigung erreicht werden. Auch ein stärkerer sozialer Zusammenhalt war nicht spürbar.

Die nun mehrheitlich konservativen Regierungen haben bei der Revision der Lissabon-Strategie die vorhandenen sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele eliminiert und setzten darauf, allein durch eine verstärkte Deregulierung eine neue Wachstumsdynamik entfalten zu können. In dieser Radikalisierung der europäischen Politik hin zu einer reinen Wettbewerbsstrategie liegt die entscheidende Ursache für die aktuelle Identitätskrise der Europäischen Union. Die Auseinandersetzungen um die Hafenrichtlinie »Port Package II« sowie die Dienstleistungsrichtlinie stehen dabei beispielhaft für die Strategie des »Angriffs auf die Arbeits- und Sozialstandards« durch die EU-Kommission.

Ungewisse Zukunft

Direkt nach den gescheiterten Referenden hat sich die Europäischen Union eine Reflexionsphase verordnet. Das Nachdenken erschöpft sich allerdings bisher weitgehend darin, Europa den Bürgern besser vermitteln zu wollen.

Allerdings sind in der »Reflexionsphase« auch interessante Zwischentöne auszumachen. Die EU-Kommission hat jüngst die Einrichtung eines Globalisierungsfonds mit einem jährlichen Budget von maximal 500 Millionen Euro angekündigt, mit dem von Arbeitsplatzverlagerungen betroffene Arbeitnehmer unterstützt werden sollen (FAZ 12.12.2006). Nach Aussage von EU-Kommissionspräsident Barosso soll der Fond die Menschen vor den Folgen entfesselter Märkte schützen. Auch wenn diese EU-Finanzhilfe insgesamt nur ein Feigenblatt sein wird und weiterhin wirksame Maßnahmen gegen Lohndumping fehlen, bemüht sich die EU – zumindest rhetorisch – verstärkt um ein sozialeres Profil.

Auch in die Debatte um die Verfassung ist Bewegung gekommen. Wurde vor geraumer Zeit jedwede Änderung am Verfassungsentwurf als unrealistisch abgetan, so ergeben sich jetzt Öffnungen in zwei Richtungen. Erstens wird von dem konservativen französischen Präsidentschaftskandidaten Sarkozy eine Mini-Verfassung in die Diskussion gebracht. Zweitens könnten sich Veränderungen bei den einseitigen wirtschaftspolitischen Festlegungen sowie Verbesserungen bei den sozialen Rechten ergeben.

Es erscheint heute mehr als unwahrscheinlich, dass der Verfassungsentwurf in seiner jetzigen Form erneut zur Abstimmung vorgelegt wird. Die deutschen Regierung spricht aktuell nicht von der Verfassung als solcher, sondern von der »Substanz der Verfassung« und man ist sichtlich bemüht, die ohnehin hohe Erwartungshaltung zu dämpfen. An Fahrt wird die Debatte nach der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Frühling gewinnen. Die deutsche Ratspräsidentschaft soll dabei keine neue Verfassung präsentieren, sondern den weiteren Weg dahin ebnen. Die Auseinandersetzung darüber wird voraussichtlich mindestens bis zur Europawahl 2009 andauern.

Angesichts der zunehmenden Verwerfungen zwischen ökonomischer und politischer Elite einerseits und den europäischen Bevölkerungen andererseits sowie der gescheiterten wirtschafts- und sozialpolitischen EU-Strategie erscheint die Zukunft Europas und der Verfassung für Europa ungewiss. Die beiden in der politischen Linken in Deutschland und Europa vorhandenen Positionen »Zustimmung wegen kleinerer sozialer Fortschritte« und »Ablehnung aufgrund unzureichender Fortschritte« müssen jetzt zusammengeführt werden, um die sich ergebenden politischen Spielräume nutzen zu können.

Nächste Etappe: Europäisches Sozialmodell als Leitgedanke

Als Antwort auf die Identitätskrise Europas braucht es ein neues Integrationsprojekt, das die Entwicklungsrichtung der nächsten 10 bis 15 Jahre bestimmt. Angesichts der politischen Landkarte ergibt sich die Alternative zwischen einer Fortsetzung der bisherigen, einseitig an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Integrationspolitik und einem sozialen Europa.

Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors und der ehemalige dänische Ministerpräsident Poul Nyrup Rasmussen bringen die derzeitige Ausrichtung der EU auf den Punkt: »Unser soziales Europa steht auf dem Spiel, denn nach Aussage der Konservativen können sich die europäischen Staaten ihr Wohlfahrtssystem nicht länger leisten. Die einzige Antwort der marktradikal dominierten Europäischen Kommission auf die Herausforderung von 18 Millionen Arbeitslosen und 68 Millionen in Armut lebenden Menschen in Europa ist die Liberalisierung des Binnenmarktes.«

Die Fortsetzung des bisherigen Integrationsmodells wären nicht nur sozial- und beschäftigungspolitisch fatal, sondern würde auch wirtschaftlich keine Verbesserung bringen. Im Ergebnis würde Europa gänzlich an Rückhalt unter den Menschen verlieren, wovon nationalistische Bestrebungen profitieren könnten. Schon bisher haben unter anderem in Polen, in der Slowakei und in Belgien rechtskonservative und rechtsextreme Parteien mit einem Anti-Europa-Kurs Erfolge bei Wahlen erzielt.

Die nächste Etappe der europäischen Integration sollte am Defizit der fehlenden sozialen Dimension ansetzen. Entsprechend gilt es den vielfach zitierten Begriff des »europäischen Sozialmodells« mit Substanz zu füllen. Zu dieser Substanz zählt nicht, die unterschiedlichen Traditionen sozialer Sicherung zu vereinheitlichen und über die Ausgestaltung des Renten- und Gesundheitswesen künftig in »Brüssel« entscheiden zu lassen. Wesentlich für die Strategie eines erneuerten europäischen Sozialmodells ist vielmehr, dass in die Wirtschaftsprozesse durch demokratisch legitimierte Politik und durch handlungsfähige Gewerkschaften gestaltend eingegriffen und so sozialer Gerechtigkeit zum Durchbruch verholfen wird. Eine solch integrativ ausgerichtete Strategie beinhaltet mindestens vier Aspekte.

Regulierung des Finanzkapitalismus

Unbestritten haben sich in Deutschland und in Europa die Spielregeln des Kapitalismus verändert. Der Übergang vom Rheinischen zum Finanzmarktkapitalismus macht sich vor allem am Machtzuwachs von Vermögensfonds und der Logik der kurzen Frist bemerkbar. Die Heuschrecken-Diskussion beinhaltete im Kern die Frage, wie die neue ökonomische Landschaft aus mächtigen Vermögensfonds reguliert werden kann. Eine Fortsetzung dieser Debatte findet sich unter anderem in der Vorbereitung des G8-Gipfels. Die Bundesregierung hat das Thema Transparenz von Hedge-Fonds hier auf die Tagesordnung gesetzt, was als erster zaghafter Versuch einer Regulierung gewertet werden kann. Hieran müssen sich europaweite Regulierungsschritte anschließen, die angesichts der Größe des Wirtschaftsraums Europäische Union erfolgversprechend sein dürften.

Ökonomische und soziale Spaltung überwinden

Wenn die Europäische Union zu einer wirklichen politischen Einheit mit annähernd gleichwertigen Lebensbedingungen werden soll, so muss die immense Spaltung in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und im Niveau der sozialen Sicherung überwunden werden. Das Schaubild »Gespaltenes Europa« verdeutlicht, wie sehr die alten und die neuen bzw. die nördlichen und südlichen EU-Mitgliedsländer immer noch auseinanderliegen.

Die wirtschaftlich leistungsfähigsten Länder haben in der Mehrheit auch die höchsten Sozialleistungsquoten. Die Überwindung des ökonomisches Gefälles führt entsprechend über den Aufbau einer guten und leistungsfähigen sozialen Infrastruktur und nicht über deren Abbau. Ergänzend ist über eine aktive europäische Industrie- und Strukturpolitik zu klären, wie eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen entwickelten und abgehängten Regionen befördert werden kann. Gewerkschaftlich braucht es auf europäischer Ebene zudem weitere Anstrengungen der tarifpolitischen Koordinierung und der betriebspolitischen Vernetzung, um Versuchen des gegeneinander Ausspielens von Arbeitnehmern in unterschiedlichen Ländern etwas entgegensetzten zu können.

Sozialpolitische Ziele

Das soziale Europa braucht populäre Maßnahmen, die die Logik des europäischen Zusammenwachsens auf dem Feld der Sozialpolitik verdeutlichen. Brüsseler Sozialpolitik beinhaltet demnach nicht länger Druck auf soziale Standards, sondern deren Annäherung auf hohem Niveau. Zielführend wäre es, einen Fahrplan für die Erreichung sozialpolitischer Ziele nach Vorbild der Konvergenzkriterien zu verabschieden. Beispiele hierfür könnten u.a. sein die verbindliche Senkung der Jugendarbeitslosigkeit auf unter 5 Prozent sowie die Annäherung der bestenhenden gesetzlichen Mindestlöhne auf mindestens 50 Prozent des jeweiligen Durchschnittslohnes eines Landes innerhalb weniger Jahre. Qualitativ bietet es sich an, den in allen Ländern zu beobachtenden Trend zunehmender prekärer Arbeitsbedingungen und nicht existenzsichernder Löhne in den Blick zu nehmen. Wichtige Voraussetzung zur Finanzierung der europäischen Sozialpolitik ist die Beendigung des Steuerdumpings und die Bekämpfung von Steuerflucht.

Europa in der Welt

Die Stärkung der sozialen Dimension muss auch am Verhältnis Europas zu seinen Nachbarn deutlich werden. Entsprechend kritisch sind die bisherige EU-Handelspolitik und die doppelzüngige Ausrichtung zwischen entwicklungspolitischer Rhetorik und knallharter Interessenvertretung in WTO, IWF und Weltbank in den Blick zu nehmen. An der europäischen Südküste ist zudem Tag für Tag erkennbar, dass sich ein soziales Europa nicht hinter Mauern und Zäunen vor den Flüchtlingsströmen verstecken kann. Es braucht eine ehrliche Debatte über die Migrationpolitik sowie über die Aufgaben einer verstärkten Nachbarschaftspolitik. Auch ist ein ehrliches Angebot für die Länder des westlichen Balkans sowie für osteuropäische Staaten wie die Ukraine hinsichtlich der künftigen Beziehungen zur EU notwendig.

Neben der Ausgestaltung der einzelnen Handlungsfelder bleibt kritisch zu diskutieren, mit welchen Ländern das soziale Europa tatsächlich zu realisieren wäre. Die vom Osnabrücker Europawissenschaftler Klaus Busch aufgeworfene These einer politischen Spaltung zwischen einer kontinentaleuropäischen Sozialstaatsfraktion und einer britisch-osteuropäischen Wettbewerbsfraktion muss in ihrer Konsequenz weiter beachtet werden. Eine Spaltung Europas sollte jedoch weder Ziel einer linken Vision Europas noch als Bauernopfer für eine soziale Ausrichtung Kontinentaleuropas fungieren.

Es wäre angesichts der politischen Kräfteverteilung illusorisch zu glauben, dass unter der deutschen Rastpräsidentschaft eine völlige Neuausrichtung Europas gelingen kann. Es bietet sich jedoch die Chance, die Eckpfeiler eines erneuerten europäischen Sozialmodells zu verdeutlichen und den politischen Streit um die Zukunft Europas aufzunehmen. Die politische Linke darf diese Chance nicht leichtfertig vergeben.

Literatur
Joachim Becker (2006): Transformation, soziale Unsicherheit und der Aufstieg der Nationalkonservativen. Kontrastfälle aus Zentralosteuropa: in Prokla Heft 3
Martin Beckmann, Frank Deppe, Mathis Heinrich 2006): In schlechter Verfassung? Ursachen und Konsequenzen der EU-Verfassungskrise, in: Prokla Heft 3
Klaus Busch (2005): Das Europäische Sozialmodell, in: SPW Heft 6
Jacques Delors, Poul N. Rasmussen (2006): Für ein neues soziales Europa, Gastkommentar in der FAZ, 16. November 2006
FAZ (2006): EU beschließt Globalisierungsfonds, 12. Dezember 2006
Estelle Göger (2006): Europa sozial gestalten, in: Argumente Juso-Magazin Heft 3
IG Metall (2006): »Für ein solidarisch erneuertes Europa«, November 2006
Michael Zürn (2006): Ein Nein, das auch ein Ja ist, in: WZB-Mitteilungen September

Kai Burmeister arbeitet beim Vorstand der IG Metall im Funktionsbereich Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen und ist Mitglied des Juso-Bundesvorstands.

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