Ein Bericht von der Berlinale

von Martina Priessner

Die Berlinale ist bereits letzten Samstag zu Ende gegangen. Die Stars sind wieder aus der Stadt verschwunden, die roten Teppiche, von denen es dieses Jahr mehr als sonst gab, wieder aufgerollt, kurz: der Alltag ist zurück. Diese 53. Berlinale war nach den Querelen um den Vorgänger Moritz de Hadeln und dessen eiliger Abwicklung die zweite Berlinale unter der Festivalleitung von Dieter Kosslick und es war seine eigentliche Bewährungsprobe. Fungierte die Berlinale im letzten Jahr als Gradmesser, wie die Filmbranche den Schock des 11. September überstanden hatte, war in diesem Jahr der bevorstehende Krieg gegen den Irak als Folie allgegenwärtig. Kosslick und die anwesenden Filmemacher und Stars nutzten dies und machten nicht nur PR in eigener Sache sondern distanzierten sich gegen den Krieg. Programmatisch das Motto der diesjährigen Berlinale: „towards tolerance“. Neben all dem Glamour, der immerhin zehn Millionen Euro kostet, brauche das Festival mehr Politik, so Kosslick, „damit die Leute sehen, dass es nicht nur um schnelle Autos und schöne Frauen geht, sondern dass Film etwas mit der gesellschaftlichen Realität zu tun hat“.

Film hat tatsächlich immer mit gesellschaftlicher Realität zu tun. Einerseits ist jedes filmische Machwerk schon immer Produkt dieser Welt und gleichzeitig stellt es die Wirklichkeit erst her. Und doch gibt es Unterschiede. Entscheidend sind oft kleine Nuancen, ein feiner Nebenton, der einen Film von der Masse absetzt, der einen kleine Schauer über den Rücken laufen lässt. Dem britischen Filmemacher Michael Winterbottom ist dies mit „In this world“ geglückt. Für die Geschichte zweier afghanischer Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach London machen, hat er den Goldenen Bären erhalten. Winterbottom widmete die Auszeichnung den Millionen Flüchtlingen auf der Welt und speziell den Laien-Darstellern seines Films, die selbst Flüchtlinge aus Afghanistan sind. Sie hätten stellvertretend für die anderen Migranten das Elend sichtbar gemacht. Mit dem Film wolle er „Aufmerksamkeit auf die Scheinheiligkeit lenken, mit der offensichtlich mit zweierlei Maß zwischen willkommenen und unwillkommenen Einwanderern gemessen wird.“ Die Jury unter Vorsitz des kanadischen Filmemachers Atom Egoyan, der seinen eigenen Film „Ararat“ in einer Sondervorstellung präsentierte, hat mit dieser Entscheidung für Überraschung gesorgt, denn als preisverdächtig wurden im Vorfeld Stephen Daldry´s ("The Hours") und Spike Lee´s ("25th Hour") gehandelt und nicht das minimalistische Flüchtlingsdrama „In this world“.

Dennoch ist dieser Preis keine rein politische Entscheidung. Neben Hans-Christian Schmids „Lichter“ und Damjan Kozoles „Ersatzteile“ ist „In this world“ der packendste Wettbewerbsbeitrag, der das weltweite Elend von Flüchtlingen zum Thema macht. Der Film ist jedoch auch in künstlerischer Hinsicht ein mutiges Statement. Winterbottom, der sich in seinen früheren Filmen von „Butterfly Kiss“ über „Welcome to Sarajewo“ und „I want you“ in der Inszenierung sämtlicher Genres ausprobiert hat - souverän und überzeugend – erzählt hier in semidokumentarischen Videobildern die Flucht zweier afghanischer Cousins. Jamal ein Waisenjunge, schlägt sich mit Arbeit in einer Ziegelfabrik durchs Leben und wohnt in dem sich immer weiter ausdehnenden Flüchtlingslager Shamshatoo in Pakistan an der afghanischen Grenze. Enayatullah arbeitet am familieneigenen Marktstand. Um ihm und seiner Familie die Möglichkeit für ein besseres Leben zu ermöglichen, wird beschlossen, ihn nach England zu schicken. Jamal überzeugt die Familie, dass auch er dorthin gehen sollte. Die beiden reihen sich ein in die Million von Flüchtlingen, die sich jedes Jahr in die Hände von Schleusern begibt.

Winterbottom vertraut auf minimalistische Bilder und einer Handlung, die völlig ohne Plots und Nebenfiguren auskommt. Wir begleiten die beiden Protagonisten auf ihrer Weltreise von einer Wüstenlandschaft in die andere, von einer Staubpiste zur nächsten, schließlich in den Schiffsbauch und in den Tunnel unter dem Ozean. Ihre Route führt sie über die Grenze in den Iran, über Teheran bis in die kurdische Gebirgsregion und schließlich in die Türkei. Der Fußmarsch über die Berge der iranisch-türkischen Grenze erscheint durch die beinahe undurchsichtige Grobkörnigkeit der Nachtaufnahmen ebenso surrealistisch wie nah. In Istanbul beginnt schließlich der mörderischte Teil der Reise – 40 Stunden eingesperrt in einem Frachtcontainer, zusammen mit anderen verzweifelten Flüchtlingen. Nur einer der beiden wird ankommen. Der andere wird am Ende nicht mehr in dieser Welt sein.

Winterbottom verzichtet auf jeden Dekor. Die Kamera folgt Jamal und Enayatullah hautnah und bald ist man gepackt von ihrem Kampf ums Überleben. Der Film ist ein packendes Dokument, stellvertretend für jene Menschen, die unglaubliches auf sich nehmen, um hierher zu gelangen. Am Ziel angelangt erwartet sie Ablehnung und Rassismus. Auf der Pressekonferenz nach der Vorstellung äußerte Winterbottom die Hoffnung, dass Leute vielleicht eher mitfühlend reagieren würden, wenn sie mehr über die Erfahrungen wüssten, die diese Menschen machen, bevor sie hier ankommen. Beeindruckend dabei ist, dass der Film trotz dieser Intensität, die er hervorruft, doch nie in Sentimentalität abrutscht. Statt Klischees und Stereotypen zu reproduzieren werden die Flüchtlinge als agierende Subjekte und als Menschen mit Würde repräsentiert und das ist keine Selbstverständlichkeit.

Die dünne Grenze zwischen Fiktion und Realität die in dem Film anwesend ist, wird durch die Tatsache noch weiter verwischt, dass Jamal nach Abschluss der Dreharbeiten von Pakistan zurück nach London gereist ist, wo er nun als Flüchtling lebt. Die Realität wird ihn spätestens an seinem 18 Geburtstag einholen - dann muss er, so der ablehnende Gerichtsentscheid über seinen Asylantrag, Großbritannien wieder verlassen.