Nisan 2004 / April 2004

Gegen die Wände

Tunçay Kulağolu

Rückblende

Die Deutschen und die Türken waren immer ein faszinierendes Liebespaar. Es gibt praktisch fast keine Erfahrung, die sie in ihrer bewegten Geschichte nicht miteinander teilten.

Als die Wiege der menschlichen Zivilisation in Rom geschaukelt wurde, fielen sie unter die Kategorie „Barbaren“: die „Teutonen“ im Norden, die „Türcken“ im Osten. Weder hier noch dort schafften sie es, eine einigermaßen annehmbare bürgerliche Revolution vom Zaun zu brechen als dies später weltweit zum Lieblingssport aller Nationen wurde. Sie kamen zu spät, weswegen sie von der Geschichte bestraft wurden. So bleibt den Deutschen bis heute das Etikett angeheftet, angelernte Demokraten zu sein, während mensch bei den Türken immer noch von angehenden Demokraten ausgeht.

Dann zogen sie gemeinsam in den ersten Weltkrieg, den sie auch gemeinsam verloren. Während die Türken fast zur gleichen Zeit den ersten Genozid der Moderne organisierten, indem sie fast die ganze armenische Bevölkerung in anatolischen Landschaften auslöschten, führten die Deutschen später den ersten industrialisierten Völkermord der Menschheitsgeschichte an Jüdinnen und Juden in Europa durch. Als wäre das alles nicht geschehen, traten sie dann ganz zivilisiert den Vereinten Nationen bei und dann der NATO.

Zuletzt wagten sie es im Irak-Krieg Flagge gegen die USA zu zeigen – natürlich gemeinsam. Eineiige Zwillinge sind sie zwar nicht, die Deutschen und die Türken. Doch zum Fürchten ähnlich.

Vorspann

Szenenwechsel: Es war im Jahr 1998 als die Medien in der Bundesrepublik feierlich verkündeten: „Der neue deutsche Film ist türkisch!“. War es denkbar, dass die stolze Nation von Fassbinder, Wenders, Herzog und Schlöndorff sich in einer filmischen Identitäts- und Kreativitätskrise befand? Ja, es war nicht nur denkbar, sondern auch Realität. Dafür drehten junge Filmemacherinnen und Filmemacher, deren Eltern schlechthin als Gemüsehändler und Dönerbudenbesitzer galten, einen Film nach dem anderen, die hierzulande nicht nur das Feuilleton, sondern auch das Publikum begeisterten. Es waren Filme, die Geschichten erzählten, die bis dahin noch niemand gewagt hatte zu erzählen. Durch und durch deutsche Storys, die jedoch nicht als solche wahrgenommen wurden.

Den Namen Fatih Akin hörte mensch damals zum ersten Mal mit seinem Film „Kurz und Schmerzlos“, dessen Story ebenfalls eine nicht so kurze und schmerzfreie Migrationsgeschichte als Hintergrund diente. Die Geschichte von drei Kleinganoven in Hamburg-Altona bediente als „qualifizierter Kitsch“ nicht nur den deutschen Geschmack. Auch die Türken in Almanya waren stolz auf ihren „Jungen aus Altona“. Akins Spielfilmdebüt, der in Locarno den Leoparden für „Beste Darsteller“ gewann, folgten weitere Filme. Dank Ayse Polat („Auslandstournee“), Yüksel Yavuz („Aprilkinder“), Thomas Arslan („Dealer“), Hussi Kutlucan („Ich Chef, Du Turnschuh“) und weiteren jungen Regisseurinnen und Regisseuren zimmerte die Öffentlichkeit kurz vor der Jahrtausendwende fleißig an der Schublade „deutsch-türkischer Film“. Zugegeben, es war nicht einfach diese neue Welle nicht ethnisch zu verorten. Doch mussten sie deswegen auch Bindestrich-Türken-Filme sein? Ja, das mussten sie.

Denn die Deutschen hatten ihren kollektiven Alptraum von Mölln, Solingen, Rostock und Hoyerswerda noch nicht verdaut. Schuldgefühle vermischten sich mit der Euphorie für die Neue Mitte. Die Überlebenden von Mölln und Solingen waren mit Bundesverdienstkreuzen abgespeist, die Anständigen erprobten einen Aufstand nach dem anderen, nützliche Kanaken bekamen Greencards ausgestellt. Die krampfhaften Bemühungen, die Bundesrepublik zum Einwanderungsland zu erklären, gingen mit immer restriktiveren Maßnahmen einher, bei denen BGS-Beamte die Flüchtlinge nicht nur in ihre Heimat beförderten, sondern auch ins Jenseits. Es war eine Zeit, in der die Fratze des hässlichen Deutschen schon wieder die Tagesordnung bestimmte. Und es war eine Zeit, in der diese Fratze einer chirurgischen Schönheitsoperation unterzogen wurde. Im nationalen Rausch war der Film gerissen und die Welt schaute zu. Nur „deutsch“ war nicht mehr hip. Die Vorführer mussten den Streifen zusammenkleben. Notfalls mit Bindestrichen, die letztendlich nur der Schlussstrichmentalität dienten.

Plot Point

Szenenwechsel: Das Attribut „Deutsch-Türkisch“ war so schlecht nicht. Angesichts der Tatsache, dass

in diesem Land geborene Menschen migrantischer Herkunft von biologischen Teutonen für ihr perfektes Deutsch immer noch Lob bekommen, war dieses Etikett sogar richtig progressiv, weil dadurch der Begriff „Türke“ verwässert wurde. Die öffentliche Akzeptanz der Bindestrich-Identitäten stellte eine Art deutsches Prüfsiegel dar. Oder mit anderen Worten: die Teutonen waren bereit, wenn auch zähneknirschend, den Tatsachen ins Auge zu schauen. Im Bewußtsein der Tatsache, dass dieses Zugeständnis auch bedeutete, dass die Türken nicht ewig Türke bleiben würden. Es war wie mit dem Assoziierungsabkommen der EU mit der Republik Türkei. Irgendwann wird der Türke Clubmitglied, selbst wenn das 40 Jahre dauert. Doch, hat der Kanake einmal eine Bindestrich-Identität verpasst bekommen, schon schießen Bedenkenträger wie die Pilze aus dem Boden und erzählen einem, wie schwer es sei, zwischen den Stühlen zu sitzen. Dabei sitzt niemand zwischen den Stühlen, sondern höchstens auf mehreren. Doch das interessierte die veröffentlichte Meinung in der Mehrheitsgesellschaft nicht.

Schnitt auf:

Szenenwechsel: Nach den Internationalen Hofer Filmtagen 2003, der wichtigsten Plattform für den deutschen Nachwuchsfilm, kritisierte ein deutscher Journalist, der dort viele Filme gesehen hatte: „Sehr trist sahen die Filme der deutschtürkischen Regisseure in Hof aus, typisch deutsche Sozialdramen über die allgemeine und spezielle Schlechtigkeit der Welt.“ Der Schreiberling der Hauptstadt-Illustrierten „Tip“ fand „Karamuk“ von Sülbiye Günar, „Alltag“ Neco Celik und „Gott ist tot“ von Kadir Sözen öde und fragte: „Wo bleibt nur die deutschtürkische Komödie?“ Als Referenz für seine Wunschträume zählte dieser Filmfachmensch Beispiele auf wie „My Big Fat Greek Wedding“, eine griechisch-amerikanische Ethno-Komödie aus den USA, der zu der Zeit weltweit zum Kassenschlager wurde.

Haben aber die Türken in Deutschland etwas zum Lachen? Haben die Türken in Deutschland etwas, worüber die Deutschen lachen können? Worin unterscheiden sich die Griechen in den USA von den Türken in der BRD? Was bewegt die Filmemacherinnen und Filmemacher türkischer Herkunft, triste Geschichten zu erzählen? Wer nicht begreift, dass selbst die zweite Welle des deutsch-türkischen Films, die letztes Jahr die Hofer Filmtage belagerte, keine Lust hat, die Deutschen zu amüsieren, bevor die Wut einer 40-jährigen rassistischen Erfahrung auf die Leinwand gebracht wird, dass die Filmemacherinnen und Filmemacher ihre seit Jahrzehnten aufgestauten und zum Verarbeiten verurteilten Storys erst erzählen müssen, dass erfolgreiche Ethno-Komödien immer aus den USA, Schweden, Frankreich oder Holland kommen, wo aber die Migrationsgeschichte ganz anders aussieht, der oder die wird nie begreifen, warum die Türken keine Lust haben, eine Lachnummer für die Deutschen zu sein. Die Filmemacherinnen und Filmemacher türkischer Herkunft in der Bundesrepublik werden auch Komödien drehen - todsicher. Doch vorher muss einiges Geschehen in deutschen Landen.

Show Down

Szenenwechsel: Ein Journalist fragte Fatih Akin nach der Pressevorführung von „Gegen die Wand“ auf der Berlinale, wann er denn endlich eine deutsche Geschichte erzählen wolle. Akins Antwort war: „Dieser Film ist aber eine deutsche Geschichte!“. Zwei Wochen später war Akin Gast bei Sandra Maischberger, die ihn fragte, wie der Film „bei euch“ aufgenommen würde (oder so ähnlich). Fatih Akin fragte sie zurück: „Sie meinen bei den Türken?“. Der bekannteste deutsch-türkische Regisseur muss selbst auf dem zweitwichtigsten Filmfestival der Welt und bei der wohl angesehensten Talkshowmeisterin Deutschlands Erklärungen abgeben über seine Herkunft: Er muss rassistische Ressentiments, die da „verständnisvoll deutsch“ rüberkommen korrigieren, er muss kontern. Er muss Schubladen ablehnen, er muss sich erklären. Stellvertretend für hunderttausende Migrantinnen und Migranten muss er begründen, überzeugen, differenzieren, rechtfertigen. Das ist weiß Göttin nicht komisch.

Abspann

Szenenwechsel: Wie gesagt, die Deutschen und die Türken sind ein faszinierendes Liebespaar. Nehmen wir die jüngsten medialen Beispiele dafür, Bild und Hürriyet. In der ekelhaftesten deutsch-türkischen Berichterstattung aller Zeiten schlachteten sie Sibel Kekilli aus, die Hauptdarstellerin in „Gegen die Wand“. Während Bild die Links zu Internetseiten ihrer Pornofilme abdruckte, veröffentlichte Hürriyet neben Nacktfotos von ihr ein Fax ihres Vaters, in dem er sich beim „türkischen Volk“ für seine Tochter entschuldigte. Die Privatsender RTL in Deutschland und ATV in der Türkei füllten ganze Abende aus mit ihren Sonderprogrammen über den „Pornoskandal“. Die mediale Perversion ist natürlich nicht nur mit den oben erwähnten Beispielen begrenzt.

Das alles soll aber egal sein. Denn als selbstbewußte Deutsch-Türken, zu denen sich auch der Autor stolz bekennt, weigern wir uns, irgendwelche Identitätskisten zu füllen. Dieses überflüssige und bis zum Erbrechen durchgekaute Unterfangen überlassen wir den den Deutschen und den Türken und wollen eigentlich nur sagen, dass wir nicht nur die besten Filme drehen, sondern auch die besten Regisseure und Pornodarsteller haben. Was dagegen?