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Murat Çakır

Die Verwässerung des Rechts

Die Bundesregierung hat einen weiteren Schritt zum »gläsernen Menschen« vollzogen. Am Donnerstag einigten sich die Sozialdemokraten und die Union über die Online-Abrufung der Passfotos von Verdächtigen. So bekommen die Sicherheitsbehörden das Recht, auf Daten der BürgerInnen zurückzugreifen. Diese Regierung hat etwas hinbekommen, was die früheren Bundesregierungen nie gelungen war: dem gewohnten Rechtssystem der bürgerlichen Demokratien steht eine grundsätzlich Veränderung bevor.

Die Maßnahmen, von denen die deutsche Öffentlichkeit nur dann etwas mitbekommt, wenn sie im einzelnen diskutiert werden, belegen im Gesamtzusammenhang, wie Deutschland – das Vorzeigestaat westeuropäischer Demokratien – zu einem »präventiven Sicherheitsstaat« umgewandelt wird. Die Aneinanderreihung der Maßnahmen wird das, was ich meine verdeutlichen:

Lauschangriff, Ausweitung der Telefonüberwachung, Luftsicherheitsgesetz, biometrische Personalausweise, Schleier- und Rasterfahndung, Anti-Terror-Datei, Zugriff des Verfassungsschutzes auf private Bankdaten seit 2005, Videoüberwachung, automatische Gesichtserkennung, Verwendung von Mautdaten zur Fahndung und Überwachung, Vorratsspeicherung der Telefon- und Internetdaten, der Fingerabdrücke und Passfotos aller BürgerInnen, Online-Untersuchung privater Computer und vieles anderes mehr.

Einzeln betrachtet wurden sämtliche dieser Maßnahmen von der Mehrheitsgesellschaft, die davon überzeugt wurde, dass sie vom Terror bedroht wird, für gut geheißen. Doch die Pläne, diese Maßnahmen, die übrigens seit Jahrzehnten für MigrantInnen alltäglich sind, auf die Gesamtbevölkerung auszuweiten, stößt auf Widerstand. Beispielsweise schrieb Heribert Prantl, einer der Hauptkommentatoren der linksliberalen »Süddeutschen Zeitung« am 21. April folgendes: »Werden die Pläne des Innenministers Schäuble umgesetzt, wird jeder Bürger zum Ausländer in eigenem Land.«

Was Prantl so wütend macht, ist nicht die Tatsache, dass die MigrantInnen durch die rechtsfreie Behandlung zum gläsernen Menschen gemacht wurden, sondern die Absicht, die deutsche Mehrheitsgesellschaft genauso zu behandeln. Zwar schreibt Prantl zu recht, dass das Bild vom potentiell gefährlichen Individuum, welches den neuen Präventionsstaat kennzeichne, im Ausländerrecht konturiert wurde und nun im allgemeinen Polizeirecht koloriert und multipliziert werde. Aber das ist an sich nichts neues. Das Neue daran ist, dass die Mehrheitsgesellschaft diese Tatsache jetzt zur Kenntnis nimmt. Daher der ganze Geschrei.

Schäuble ist seit geraumer Zeit dabei, in stiller, aber pedantischer Arbeit das Rechtssystem zu verwässern, um dann grundsätzlich zu verändern. Dabei bedient er sich der neoliberalen Manipulationsmethoden. Der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die davon überzeugt ist, dass die MigrantInnen per se ein Bedrohungspotential darstellen, reicht vollkommen aus zu sagen, es bedürfe zur Gewährleistung der Sicherheit Präventivmaßnahmen und der Notwendigkeit, das rechtsstaatliche Prinzip der »Unschuldsvermutung« aufzuheben. Es ist die gleiche manipulative Art davon zu sprechen, während das Folterverbot in Deutschland verteidigt wird, dass Aussagen unter Folter im Ausland durchaus von deutschen Sicherheitsbehörden »genutzt« werden sollten.

Die Mehrheitsgesellschaft, die bereit ist zugunsten einer – wie auch verstandenen – Sicherheit auf ihre Freiheiten zu verzichten, würde auch all dies akzeptieren – unter einer Bedingung: wenn sie selbst nicht davon betroffen sind! Folter außerhalb Deutschlands, das ist üblich und wir sollten natürlich die Aussagen unter Folter, eben im Ausland, für sachdienliche Hinweise nutzen. Keine Frage: MigrantInnen können als potentielle Kriminelle behandelt werden – solange wir davon nicht betroffen sind.

Wenn heute Teile der Mehrheitsgesellschaft sich gegen die Verwässerung des Rechts stellen, dann tun sie das, weil sie jetzt selbst davon betroffen sein könnten. Doch, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass diejenigen, die gegen die rechtlose Behandlung anderer nichts unternommen haben, überhaupt in der Lage sein werden, die Aufhebung des Rechts zu verhindern. Kurz um, solange Deutsche im eigenen Land nicht wie Ausländer behandelt werden, solange werden rechtsstaatliche Prinzipien nacheinander aufgehoben. Die Rechnung haben dann – wie immer – die MigrantInnen, der Bodensatz der Unterschichten zu zahlen.

Am 28. April 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«. Eine etwas geänderte Fassung wurde in der Zeitschrift Das Blättchen veröffentlicht:

Willkommen im Club

Es war die Idee der jungen Löwin, die Bullen anzusprechen: »Immer wieder jagen wir euch und nehmen uns immer einen der Schwachen oder Kranken. Aber bei der Jagd passiert es auch, dass junge und gesunde Mitglieder eurer Herde verletzt werden. Wir wollen euch einen Vorschlag machen: gebt uns freiwillig einen der euren, der Krank oder Schwach ist und wir brauchen niemanden zu jagen und dabei zu verletzen.« Es schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Immerhin war die Herde groß und die Kühe kalbten fleißig. Also gingen die Bullen auf diesen Vorschlag ein und gaben jedes Mal, wenn die Löwen Hunger hatten, einen der Schwachen. Nach einer Zeit wurde die Herde immer kleiner. Und eines Tages kamen die Herdenführer zusammen und fragten sich, wo sie einen Fehler gemacht haben. Ein weiser Bulle sagte daraufhin: »Als wir ihnen den ersten Schwächsten auslieferten.«

Am Morgen des 28. April 2007 meldeten die Ticker, dass der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble angesichts der massiven Kritik, die Ausspähung von Computern durch Geheimdienste vorläufig gestoppt habe. Hört hört, welch eine weise Entscheidung sagten manche. Zwar habe die Bundesregierung eingestanden, dass die Geheimdienste seit 2005 Online-Durchsuchungen durchführten, also die Grundrechte einfach per Dienstanweisung aufgehoben haben, aber wen interessierte es, wenn schon die Verfassung mit Ankündigung mehrfach mit den Füßen getreten wurde?

Nun, Heribert Prantl schien das doch ein Dorn im Auge zu sein. In seinem Artikel vom 21. April 2007 hatte der linksliberale Kolumnist der »Süddeutschen Zeitung« feste drauf gehauen und die »Banalisierung der Grundrechte« beklagt: »Innenminister Schäuble hat geschafft, was seinen Vorgängern nie gelungen war: Eine Grundsatzdiskussion über die Veränderungen des Rechtssystems in Deutschland. Werden seine Pläne umgesetzt, wird jeder Bürger zum Ausländer im eigenen Land

Als nichtgebürtiger Teutone konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: Na denn, willkommen im Club! Eigentlich ist an Prantl Kritik nichts Neues dran. Wer sich den Koalitionsvertrag der CDU/CSU-SPD-Regierung angeschaut hat, konnte lesen, was alles die Koalitionäre vor hatten. Sie setzten im Inneren auf einen »hart durchgreifenden und handlungsfähigen Staat«, während in den Bereichen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die »Verschlankung« gefordert wurde. Eben, der Staat als Ordnungsmacht zur Durchsetzung der neoliberalen Interessen. Das Beschwören des »internationalen Terrorismus« und »konsequente Sicherheitspolitik zog sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag und belegte, dass die Berliner Republik künftig mit einem noch rigideren, verschärften und einschränkenden Innen- und Rechtspolitik, mit der die Grundrechte einem als uferlos verstandenen Sicherheitswahn geopfert werden, zu rechnen hatte.

Damals warnte die gesellschaftlich wie politische Linke davor, was uns blüht. Nun haben wir den Salat! Die »Nichtteutonen« kümmert das wenig, weil sie seit Jahrzehnten genau das erleben, was nun der Gesamtbevölkerung bevorsteht. Was Prantl so wütend macht ist nicht die Tatsache, dass MigrantInnen in diesem Land durch die rechtsfreie Behandlung gläserne Menschen geworden sind und jederzeit illegalisiert werden können, sondern die Absicht, die deutsche Mehrheitsgesellschaft genauso wie sie zu behandeln.

Im Grunde genommen spricht Schäuble das aus, was die gesellschaftliche Mitte auch denkt. Eine Gesellschaft, die mehrheitlich davon überzeugt ist, dass »Nichtteutonen« ein Bedrohungspotential darstellen und bereit ist, für die »Sicherheit« auf Freiheiten und Grundrechte zu verzichten, hat nichts dagegen, wenn im Ausland gefoltert wird und rechtsstaatliche Prinzipien für »Nichtteutonen« aufgehoben sind. Problematisch wird es, wenn der »Präventivstaat« sie selbst zu Objekten des Sicherheitswahns macht.

Sicher hat Prantl recht. Der Rechtsstaat wird verändert. Das gehört zum neoliberalen Umbau der Gesellschaft. Doch, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass diejenigen, die gegen die rechtlosen Behandlung anderer nichts unternommen haben, überhaupt in der Lage sein werden, die Aufhebung des Rechts zu verhindern. Kurz um, solange Deutsche im eigenen Land nicht wie Ausländer behandelt werden, solange werden wir zuschauen müssen, wie rechtsstaatliche Prinzipien nacheinander aufgehoben werden. Wie immer werden dann die Rechnung die MigrantInnen, als Bodensatz der Unterschicht, zu zahlen haben. Wird es nicht langsam Zeit zu fragen, wo wir den eigentlichen Fehler gemacht haben?

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