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Murat Çakır

»Der Überwachungsstaat«

Recht zu haben, reicht bei weitem nicht aus. Seit Jahrzehnten weisen die Selbstorganisationen der MigrantInnen auf die Defizite hin: »Die Entrechtung der MigrantInnen ist ein großes Defizit der Demokratie. Das, was den MigrantInnen zugemutet wird, wird später auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet«. In einem der früheren Kolumnen hatte ich betont, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft aufgrund des kapitalistischen Rollbacks ein Trauma erlebt. Ein wichtiges Instrument dieses Rollback war und ist die Migrationspolitik.

Letzten Donnerstag erklärte der Bundesinnenminister Schäuble seine Pläne. Das Bundesinnenministerium drängt auf den automatisierten Zugriff der Sicherheitskräfte auf die Daten der BundesbürgerInnen und Schäuble faucht: »Es ist Eile geboten!«. Über 80 Millionen Menschen werden so zu gläsernen Menschen. Würde George Orwell noch leben, hieße wahrscheinlich sein Science-Fiction-Roman nicht »1984«, sondern »2007« und wäre ein Tatsachenroman.

War aber diese Entwicklung nicht voraussehbar? Selbstverständlich, denn alle Maßnahmen, über die derzeit heiß debattiert wird und mit dem Totschlagargument »Sicherheit« auch umgesetzt werden sollen, haben eine lange Geschichte. Diese Geschichte ist unmittelbar mit der Anwesenheit der MigrantInnen in Deutschland verbunden.

Alles was umgesetzt werden soll, gilt seit langem für MigrantInnen. Beispielsweise sind im Ausländerzentralregister in Köln sämtliche Daten von Drittstaatenangehörigen, die irgendwann und irgendwie mit der Bundesrepublik Kontakt aufgenommen haben, gespeichert – unabhängig davon, ob die Person bei einer Botschaft Visum beantragt hat oder seit mehr als 40 Jahren in der Bundesrepublik lebt und inzwischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die MigrantInnen sind seit Jahrzehnten gläserne Menschen.

So werden verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte für »Nichtweiße« relativiert. Institutionen des Staats, Sicherheitskräfte, Versicherungsunternehmen und freilich die Geheimdienste können die Daten ohne richterlichen Beschluss von dem Ausländerzentralregister abrufen. Somit hat der Staat für die einen Teil der Gesellschaft, nämlich denen mit Migrationshintergrund – nach dem letzten Mikrozensus rund 15 Millionen Menschen – einen Kontroll- und Überwachungsmechanismus errichtet, die jederzeit und willkürlich benutzt werden kann.

Jetzt ist die gesamte Gesellschaft an der Reihe. Es ist die konsequente Weiterführung der Maßnahmen, die zu Zeiten des früheren Bundesinnenministers Otto Schily, den sogar die Konservativen bewunderten, begonnen haben. Nach der Digitalisierung der biometrischen Daten, den Möglichkeiten für Rasterfahndungen von bestimmten Bevölkerungsteilen, Terrordatenbank, Videoüberwachungen und erweiterten Befugnissen für Polizei und Geheimdienste, sollen nun alle EinwohnerInnen der Berliner Republik in einer Datei aufgenommen werden. Entgegen allen Beteuerungen – die Aussage, dass die biometrischen Daten nur in Pässen gespeichert wird, hat sich als eine Lüge erwiesen - ist das ein weiterer Schritt in die Richtung des totalen Überwachungsstaates.

Noch vor einigen Wochen wollte Schäuble den Geheimdiensten und Sicherheitskräften die Online-Überwachung der privaten Computer ermöglichen. Dafür verlangte er die Änderung des Grundgesetzes. Die Pläne nach der Nutzung der Mautdaten sind immer noch aktuell.

Kurzum, »Big Brother« ist überall. Heutzutage weiß jede und jeder, die/der an den 1.Mai-Kundgebungen, G8-Protesten und anderen Aktionen teilnimmt, dass sie/er von Polizeikameras aufgenommen wird. Der Staat scheut sich nicht davor zurück, die parlamentarische Opposition zu beobachten und auszuspionieren. Bei einer derartigen Professionalisierung muss man schon sagen, dass die ostdeutsche Stasi dagegen reiner Amateur gewesen ist.

Das Problem an der ganzen Geschichte liegt daran, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft – auch die gesellschaftliche Opposition – diese unsägliche Entwicklung einfach hinnimmt. Das ist ein Ergebnis der entstandenen Angstgesellschaft. Wenn jetzt die Sozialdemokratie und einige gesellschaftliche Kräfte sich scheinbar den Plänen widersetzen wollen, dann müssen sie sich die Frage gefallen lassen, warum sie nicht protestiert haben, als MigrantInnen gläsern wurden?

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